Die Türkei im Abgrund?
Über die aktuelle türkische Finanz- und Wirtschaftskrise
Die Zahlen sprechen für sich: Obwohl das Bruttoinlandsprodukt laut der staatlichen Statistikbehörde TÜIK im zweiten Quartal 2022 um 7,6 Prozent gewachsen ist und positive Prognosen abgegeben werden, steckt die Türkei in einer tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise, welche die dramatische Situation der Werktätigen erheblich verstärkt. Die Inflation galoppiert von einem Rekord zum anderen, die Landeswährung Lira stürzt weiter ab, breite Bevölkerungsteile verarmen immer schneller, eine Bankrottwelle überrollt Klein- und Kleinstunternehmen und der Hegemoniekampf zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen verschärft sich immer mehr. Die autoritär-neoliberale Politik, die von Erdogan mit Hilfe seiner Präsidialdiktatur repressiv durchgesetzt wurde, scheint an ihre Grenzen gekommen zu sein. Die Wählerbasis des AKP-Palast-Regimes bröckelt weiter und auch innerhalb der herrschenden Klassen wird Widerspruch wieder laut artikuliert. Zwar kann man bislang nicht von einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung gegen die Regierung sprechen, dennoch flammen trotz massiver Repression kleinere und größere Protestbewegungen auf. Durch die derzeitige ökonomische Entwicklung gerät Staatspräsident Erdogan immer mehr unter Druck. Aber ob er bei den im Juni 2023 angesetzten Präsidentschaftswahlen abgestraft wird, ist aufgrund des zaghaften Widerstandes der bürgerlichen Opposition noch nicht klar vorauszusagen.
Doch bevor wir uns dieser Frage widmen, sollten wir uns die nackten Zahlen anschauen. Laut TÜIK[1] wurde im Juli 2022 eine jährliche Inflation i. H. v. 79,6 Prozent festgestellt. Damit erreichen die Verbraucherpreise den höchsten Stand seit rund 24 Jahren. Allerdings werden die TÜIK-Angaben von verschiedenen Seiten angezweifelt. So berichtete die linke Tageszeitung »Evrensel« am 4. August 2022, die unabhängige »Forschungsgruppe Inflation« (ENAG) habe auf der Grundlage der TÜIK-Daten den Verbraucherpreisindex im Juli 2022 mit rund 176 Prozent berechnet. Auch das Forschungszentrum der Gewerkschaftskonföderation DISK[2] widersprach den offiziellen Zahlen und bezifferte den Verbraucherpreisindex mit 139,7 Prozent. Am 5. September 2022 wurden neue Zahlen veröffentlicht: Demnach gab die TÜIK die jährliche Inflationsrate mit 80,21 Prozent an und ENAG korrigierte die Zahlen auf 181,37 Prozent.
Für die Werktätigen und für den überwiegenden Teil der Bevölkerung ist es völlig unerheblich, welche Zahlen man als Grundlage nimmt, selbst die offiziellen Zahlen bestätigen die katastrophale Situation der breiten Massen. Gerade für die unteren Einkommensgruppen bedeutet die starke Teuerung eine massive Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse. Schon am 21. März 2022 berichtete die kemalistische Tageszeitung »Cumhuriyet«, dass »32 Prozent der türkischen Bevölkerung auf staatliche Hilfe angewiesen« sei. Laut einem Bericht des Ministeriums für Familie und soziale Dienste haben im Jahr 2021 über 11 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe erhalten, was einer Steigerung von 157 Prozent gegenüber 2020 entspricht. Wenn man bedenkt, dass von den 64,6 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter gerade mal 21,4 Millionen als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte eingetragen sind und die durchschnittlich einen Nettolohn von ca. 302,00 Euro[3] erhalten, kann deren katastrophale Situation besser nachvollzogen werden. Noch schlimmer ist die Lage von rund 12 Millionen Werktätigen, die im informellen Sektor beschäftigt sind und über keinerlei soziale Absicherung verfügen.
Ordnungshalber sollte in diesem Zusammenhang auf die geschönten Arbeitslosenstatistiken der TÜIK hingewiesen werden. Während sie im August 2022 die saisonal bereinigte Arbeitslosenquote für Juni 2019 mit 13,7 Prozent und für Juni 2022 mit 13,5 Prozent angab, berechnete das gewerkschaftliche Forschungszentrum DISK-AR auf der Grundlage der TÜIK-Rohdaten eine Arbeitslosenquote von 20,4 Prozent im Juni 2022. Demnach waren 7,6 Millionen Menschen erwerbslos, wobei die Frauenarbeitslosigkeit mit 28,3 Prozent über dem Durchschnitt lag.
Hausgemachte Krisen
In den gängigen Medien in der BRD wird die massive Teuerung meistens mit der schwächelnden Lira in Verbindung gebracht. Dies ist teilweise richtig. Während 2013 für einen US-Dollar 1,90 Lira bezahlt werden mussten, kostete 1 US-Dollar am 31. August 2022 schon 18,20 Lira. Insbesondere nach der Ankündigung des US-Präsidenten Trump, die Zölle auf Stahlimporte aus der Türkei zu verdoppeln, war die Talfahrt der Landeswährung nicht mehr zu stoppen. Dazu kamen – kommen heute noch – die vom Staatspräsidenten durchgesetzten Zinssenkungen der Notenbank, mit denen die Lira noch mehr geschwächt wird. Noch Anfang September 2022 erklärte Erdoğan sein »ökonomisches Fachwissen« damit, dass er der Auffassung sei, die Notenbank könne die Inflation, die ein »Ergebnis von hohen Zinsen« sei, mit niedrigen Zinsen bekämpfen. Minister und Notenbankchefs, die dieser Auffassung nicht folgten, wurden längst durch andere Lakaien ersetzt.
Die Ursachen für die ungebremste Talfahrt der Lira und die galoppierende Inflation sind jedoch nicht allein mit der Einmischung Erdoğans zu erklären, sie liegen in den strukturellen Problemen des türkischen Kapitalismus. Im Grunde genommen stehen die AKP-Regierungen in der Kontinuität der Wirtschaftspolitik der Militärjunta von 1980 und der bürgerlich-konservativen Regierungen bis 2002. Mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde die neoliberale Politik mit militärischer Gewalt durchgesetzt und bis heute ausgebaut. Diese krisenhafte Wirtschaftspolitik kam, wie heute, immer wieder an ihre Grenzen und führte das Land in den Abgrund.
Ab September 1980 wurde mit Kriegsrecht und massiver Repression ein auf einer exportorientierten Wachstumsstrategie und einem ebensolchen Entwicklungsmodell basierendes neoliberales Akkumulationsregime installiert und das zuvor beschlossene, aber durch die starke Abwehr der Arbeiterbewegung vor dem Putsch verhinderte Strukturanpassungsprogramm vom 24. Januar 1980 durchgesetzt. Zugleich begann ein gewaltiger Transformationsprozess der politischen und ideologischen Grundlagen des Staates, der ohne die Stabilisierung der inneren Kräfteverhältnisse zugunsten der herrschenden Klassen nicht durchgeführt werden konnte. Die Militärdiktatur schuf damit Voraussetzungen für eine Organisierung des türkischen Kapitalismus, auf denen die nachfolgenden Regierungen aufbauen konnten.
Nach 1989 wurde die Krise des neoliberalen Akkumulationsregimes akut, die 2001 in einer tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise mündete. Die damalige Regierung vereinbarte mit dem Internationalen Währungsfonds eine weitere Strukturanpassungspolitik, die zwar zur Konsolidierung eines vom Ausland abhängigen Finanzialisierungsmodells zugunsten der großen, in die globalen Kapital- und Warenkreisläufe integrierten Kapitalfraktionen führte, aber mit der Weltwirtschaftskrise von 2007/2008 ins Stocken geriet. Von dieser Strukturanpassungspolitik konnten die AKP-Regierungen zu Beginn durchaus profitieren.
In der BRD frohlockten die bürgerlichen Medien kurz nach Machtübernahme durch die AKP und sprachen von einem »türkischen Wirtschaftswunder«. Immerhin hatte die AKP-Regierung binnen kurzer Zeit die neoliberale Lehre durchgesetzt und die »öffentliche Hand saniert«. Mit der Hilfe einer enormen Privatisierungswelle (zwischen 2002 und 2014 wurden über Privatisierungsmaßnahmen rund 60 Milliarden US-Dollar eingenommen) konnte der Haushalt »ausgeglichen« werden. Von Privatisierungen in den Bereichen Energieproduktion, Telekommunikation, Zement, Stahl, Autobahnbau, Banken, Bildung, Gesundheit und vielen anderen Sektoren profitierten Konsortien von in- und ausländischen Kapitalgruppen.
Gleichzeitig mit der Privatisierungswelle floss aufgrund des hohen Zinsniveaus und des hergestellten »Vertrauens in die Türkei« ausländisches Kapital ins Land. Zwischen 2002 und 2014 notierte die Zentralbank Auslandsdirektinvestitionen, Portfolioinvestitionen und Bankenkredite im Gesamtumfang von rund 490 Milliarden US-Dollar.[4] Für die inländische wie ausländische Großbourgeoisie kam die neue Regierung einem »Gottessegen« gleich. So konnte die AKP bis 2013 ein von Konsum und von der Bauindustrie getragenes Wirtschaftswachstum generieren.
Dieses Wachstum kam allerdings schnell ins Schwanken: Während das Wirtschaftswachstum 2005 mit 8,4 Prozent angegeben wurde, lag es 2014 nur noch bei 3,3 Prozent.[5] Die massive Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft führte zu einem klaffenden Leistungsbilanzdefizit, welches durch Kapitalimporte ausgeglichen werden musste. Trotz des hohen Risikos floss jedoch weiterhin Finanzkapital in die Türkei, was wiederum zu einem rasanten Anstieg der Gesamtverschuldung führte. Während diese 2005 175,7 Milliarden US-Dollar betrug, stieg sie im 4. Quartal 2021 auf 441,1 Milliarden.[6]
Nicht nur öffentliche Hand und Privatunternehmen verschuldeten sich massiv, auch die Schuldenlast der privaten Haushalte stieg unaufhaltsam. Aufgrund der stagnierenden Reallöhne und des Währungsverfalls sind über 70 Prozent der privaten Haushalte auf Konsumkredite angewiesen. Die Schuld- und Zinszahlungen betragen inzwischen über die Hälfte des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte, wobei dieses sich durch die inflationsbedingte Entwertung stetig vermindert. Welche dramatischen Folgen diese Entwicklung hat, braucht hier sicherlich keiner weiteren Ausführung.
Die akute Krise des neoliberalen Akkumulationsregimes führte immer wieder zu politischen Krisen. Zwischen 2007 und 2013 bekämpfte die AKP als eine Koalition unterschiedlicher islamistischer Strömungen die kemalistischen Eliten im Staat. Der Staatsapparat wurde in dieser Zeit weitgehend von Kemalisten gesäubert. Gleichzeitig begann der Hegemoniekampf zwischen AKP-nahen Kapitalfraktionen, die vorwiegend auf dem türkischen Markt, insbesondere im Bausektor agieren und jenen großen Fraktionen, die mit den internationalen Märkten verbunden und die im »Verband der türkischen Industriellen und Unternehmer« (TÜSIAD) organisiert sind. Dieser Hegemoniekampf dauert heute noch an.
Zwischen 2013 und 2016 begann der Machtkampf innerhalb des Regierungsblocks. Die faschistoide »Gülen-Bewegung«[7], mit deren Hilfe Erdoğan die Kemalisten verjagt hatte, stellte nun selbst den Machtanspruch. Gülen-Anhänger aus Justiz-, Geheimdienst- und Polizeiapparaten veröffentlichten belastendes Material über Erdoğan, seine Familie und Minister. Es bahnte sich eine schwere Regierungskrise an, die jedoch nach dem gescheiterten Putschversuch[8] abgewehrt werden konnte. Infolgedessen wurde der Staatsapparat von Gülen-Anhängern gesäubert. Nach 2016 begann die autoritäre Konsolidierung des inzwischen nationalistisch-konservativ agierenden Machtblocks, die zum Sieg Erdoğans im Verfassungsreferendum des Jahres 2017 führte und die mit seinem Wahlsieg am 24. Juni 2018 in der Legitimierung der Präsidialdiktatur mündete.[9] So konnte er, gestärkt durch das Präsidialsystem, die autoritär-neoliberale Politik, die er mit weiteren Privatisierungen, PPP-Projekten und immensen Infrastrukturinvestitionen stützte, weiterführen. Das repressiv durchgesetzte und durch eine klientelistische Wirtschafts- sowie Sozialpolitik unterstützte AKP-Vorgehen war jedoch nicht mehr in der Lage, die sich vertiefende Finanz- und Wirtschaftskrise aufzuhalten.
»Zwei grundlegende Probleme«
In einem jüngst publizierten Artikel führt der Politikwissenschaftler Axel Gehring die Finanz- und Wirtschaftskrise der Türkei auf zwei grundlegende Probleme zurück[10]: »Erstens gibt es seit längerem Sättigungserscheinungen in wichtigen Branchen wie beispielsweise der Bauindustrie, das heißt auf den Märkten werden nicht mehr alle Produkte und Dienstleistungen nachgefragt, es entstehen Überkapazitäten. Zweitens kommt es zu hohen Handelsbilanzdefiziten, die aus der importabhängigen Struktur der türkischen Wirtschaft resultieren. Insbesondere in Boom-Zeiten wachsen die Defizite der Zahlungsbilanz überproportional.
In profitablen Märkten machen sich Handelsbilanzdefizite kaum bemerkbar, weil sie ausländische Investitionen anziehen, die die Defizite ausgleichen. Mit dem Sättigungsproblem geriet dieser Mechanismus jedoch seit den späten 2000er-Jahren zusehends ins Stocken. Die AKP reagierte mit einer ausgeprägt politisierten, expansiv neoliberalen Politik. So konnte sie für einen relativ langen Zeitraum das Profitabilitätsproblem überbrücken – allerdings um den Preis einer hohen Inflation und eines seit Jahren sinkenden Wechselkurses.
Der Wechselkurs wurde auch deshalb zur Achillesferse, weil die Netto-Privatverschuldung der Türkei bis 2018 auf über 200 Milliarden US-Dollar und die Bruttoverschuldung des Landes auf mehr als 460 Milliarden US-Dollar anstieg. Das war ein Ergebnis der Expansion der Finanzwirtschaft seit den 2000er Jahren. In diesen Jahren ökonomischer Expansion und stabiler Wechselkurse hatten nicht nur Unternehmen, sondern auch immer mehr Türk*innen Kredite in ausländischen Währungen aufgenommen. Mit dem Währungsverfall der 2010er-Jahre stiegen ihre Kreditkosten immens an. Das dämpfte seit 2018 auch die weitere Kreditvergabe in Fremdwährung, denn sie galt als besonders riskant.«
Des Weiteren sieht Gehring die Türkei in einem wirtschaftspolitischen Zangengriff[11]: »Doch wie genau sieht die Bearbeitung der lang andauernden Lira-Krise aus? Indem die Zentralbank unter dem Druck akuter Währungskrisen zuletzt dem monetaristischen Paradigma folgte und die Zinsen erhöhte, versuchte sie die türkische Wirtschaft in die Lage zu versetzen, ihre Fremdwährungskredite zu bedienen, Devisen ins Land zu locken und das Rating der Türkei insgesamt zu verbessern. Dies kommt den Interessen jener Unternehmen entgegen, die unmittelbar in globale Kapital- und Warenkreisläufe eingebunden sind.
Hohe Zinsen bedeuten jedoch für jene Unternehmen, die primär auf dem türkischen Markt agieren, steigende Finanzierungskosten und dämpfen die Binnenkonjunktur. Daher besteht ein erheblicher politischer Druck auf die Zentralbank, die Zinsen möglichst niedrig halten. Insbesondere der Präsident übt Einfluss in Richtung einer Niedrigzinspolitik aus – die Präsidialverfassung erlaubt es ihm, direkt in Berufungsangelegenheiten der Zentralbank einzugreifen. In den letzten Krisenjahren hat er davon häufig Gebrauch gemacht, die geldpolitischen Entscheidungen der Zentralbank lesen sich wie ein Tagebuch seiner personalpolitischen Interventionen.
Um dieses Pendeln zwischen den beiden währungspolitischen Polen möglichst zu minimieren, hat die Zentralbank über Jahre versucht, mit Swapgeschäften und Devisenverkäufen den Lira-Kurs zu stabilisieren. Während erstere als Währungstauschgeschäfte nur kurzfristig den Kurs stützen, haben sich die Devisenreserven weitgehend erschöpft. Daher konnte die Zentralbank zuletzt auch nicht mehr gegensteuern.
Es erweist sich nun, dass der Finanz- eine vielfach verzögerte Wirtschaftskrise zugrunde liegt. Nicht zuletzt aufgrund der Inflation fließen die ausländischen Investitionen nicht mehr so stetig ins Land, wie noch in den 2000er-Jahren. Auch deshalb gelingt es immer weniger, die Lira zu stabilisieren – ein Teufelskreis.«
Ein Teufelskreis, in dem die Krise des Akkumulationsregimes und die Staatskrise miteinander verflochten sind und der durch Vielfachkrisen im In- und Ausland verschärft wird. Ihn zu unterbrechen kann allein mit einer veränderten Zinspolitik und Inflationskontrolle nicht gelingen.
Kampf zwischen und innerhalb der Klassen
Die Stimmung im Land ist angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie mit Blick auf die für Juni 2023 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen[12] sehr angespannt. Politische Parteien sind längst im Wahlkampfmodus, zumal inzwischen hinter den Kulissen über vorgezogene Wahlen spekuliert wird. Umfragen machen deutlich, dass die Wählerbasis der AKP, trotz weiterer erheblicher Unterstützung, im Bröckeln ist. Nach den im August 2022 durchgeführten Umfragen[13] der Forschungsinstitute MetroPOLL und Piar käme die AKP nur 29,6 Prozent bzw. 28,1 Prozent der Stimmen. Die neofaschistische »Partei der nationalistischen Bewegung – MHP«, wegen deren Schwäche die Wahlhürde von 10 auf sieben Prozent gesenkt wurde, würde mit 6,2 Prozent der Stimmen den Wiedereinzug ins Parlament verpassen. Somit hätte Erdoğans Machtblock nur 35,8 Prozent, während der bürgerlich-nationalistische Oppositionsblock von CHP (21,0 %), IYI Parti (12,5 %), Gelecek Partisi (3,5 %), DEVA (3,0 %), Demokrat Parti (1,1 %) und Saadet Partisi (1,1 %) mit insgesamt 42,2 Prozent vorne läge. Dem linken »Bündnis für Arbeit und Freiheit« mit der HDP (11,7 %) und weiteren sozialistischen Parteien sowie kommunistischen Organisationen fiele dann die Schlüsselrolle zu. Ein weiteres Wahlbündnis mit dem Namen »Union der sozialistischen Kräfte«, geschlossen zwischen der »Kommunistischen Partei der Türkei – T.K.P.« (ehemals SIP und nicht zu verwechseln mit der seit 1921 verbotenen KP der Türkei[14]), der Linkspartei – SOL (ehemals ÖDP und Mitglied der Europäischen Linken), der Kemalistisch orientierten »Kommunistischen Bewegung der Türkei-TKH« und der »Revolutionären Bewegung« wird unter dem Rubrik »Andere Parteien: 3,2 Prozent« geführt.
Die bürgerlich-nationalistische 6-Parteien-Opposition verhandelt zwar über ein gemeinsames Vorgehen und wird höchstwahrscheinlich den CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidaten nominieren, tut sich aber schwer damit, grundlegende Probleme des Landes anzugehen, geschweige denn eine Lösungsalternative anzubieten. Schaut man sich das Wirtschaftsprogramm[15] der 6-Parteien-Opposition an, sieht man deutlich die neoliberale Handschrift. Zwar steht in diesem Papier, dass »die Bündnisparteien die Unabhängigkeit der Zentralbank sowie die Autonomie der Marktkontrollkommissionen wiederherstellen, Budgetdisziplin einführen, Korruption und den informellen Sektor bekämpfen« und »allgemeingültige ökonomische Prinzipien gemeinsam einhalten« werden. Gleichzeitiges Einschwören auf die »Wiederherstellung der Gewaltenteilung, der freiheitlichen Ordnung, einer auf Vielfalt und Antidiskriminierung setzenden parlamentarischen Demokratie, die Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit, Sozialstaatlichkeit, der Entwicklung einer produktions- und beschäftigungsfördernden Ökonomie sowie einer Außenpolitik, die auf gegenseitigen Respekt und EU-Perspektive setzt« macht deutlich, dass man breite Gesellschaftsschichten überzeugen möchte.
Dabei beinhaltet dieses Programm genau die gleichen Instrumente wie das nach der Krise von 2001 umgesetzte Stabilitätsprogramm. Auch damals machten die »Unabhängigkeit der Zentralbank« und die vorgesehenen »Ordnungsinstitutionen« die Räder der technokratischen Maschinerie aus. Die 6-Parteien-Opposition schlägt im Grunde das Modell eines Marktautoritarismus vor, der schon zuvor die Gewerkschaften atomisiert hat. Zudem bedeutet die Rückkehr zum Programm von 2001 die Fortführung der Erosion der agrarischen und industriellen Produktion sowie die Verstärkung der Importabhängigkeit und eine weitere Erhöhung der Gesamtverschuldung. Es steht außer Frage, dass eine gleichzeitige Umsetzung einer solchen Wirtschaftspolitik und Ansätze einer wie auch immer gearteten Demokratisierung ausgeschlossen sind. Falls die bürgerlich-nationalistische Opposition nach ihrem eventuellen Wahlsieg dieses Programm umzusetzen beginnen sollte, wird jeder Schritt zur »Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie« im Keim erstickt. Sowohl das Regime als auch die von der lang anhaltenden Polarisierung ermüdete Gesellschaft sind sich bewusst, dass die bürgerliche Opposition nicht die Kraft hat, eine grundlegende Veränderung herbeizuführen. Umfragen weisen die AKP-Unterstützung daher weiterhin als relativ hoch aus.
Krisenzeiten sind bekanntlich Zeiten der Verschärfung von Klassengegensätzen. Obwohl große Potentiale bestehen, die einen Klassenkampf von unten anfeuern könnten, haben die arbeitenden Klassen weder genügend organisatorische noch politische Kraft, um gegen die herrschenden Klassen aufzubegehren. Repression, antidemokratische Gesetzgebung, gesellschaftliche Polarisierung und der Krieg in Kurdistan spalten und schwächen jene Kräfte, die einen solchen Kampf führen könnten. In diesem Zusammenhang ist Axel Gehring zuzustimmen:[16] »Die bislang spärlichen Proteste sprechen indessen auch für die Wirksamkeit der Repressionsstrategie der AKP. Trotz aller Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik ist es ihr immer wieder gelungen, die Bildung einer artikulationsfähigen Opposition zu unterbinden. Und sollten die Proteste sich ausbreiten, verfügt die Partei mit der weiteren Militarisierung der kurdischen Frage über eine „bewährte“ Option, diese zu unterbinden.«
Daher werden wir Zeugen des Kampfes innerhalb der Kapitalistenklasse, der sich als Hegemoniekampf darstellt, der jedoch zugleich als ein Klassenkampf von oben zu verstehen ist. Die organisierte Vertretung der türkischen Monopolbourgeoisie, die TÜSIAD, veröffentlichte vor kurzem unter dem Titel »Mit einem neuen Verständnis die Zukunft aufbauen« ein Positionspapier[17], das sich kritisch mit der Regierungspolitik auseinandersetzt, die Unabhängigkeit der Zentralbank fordert und die Wichtigkeit des Laizismus hervorhebt. Mit dieser Positionierung verfolgt die Monopolbourgeoisie zwei vorrangige Ziele: Zum einen die Zurückdrängung der von der AKP begünstigten Kapitalfraktionen und die Unterordnung der Regierungspolitik unter ihre spezifischen Interessen. Zum anderen die Verhinderung eines »aus dem Wege driften« der 6-Parteien-Opposition in der Wirtschaftspolitik und die Sicherstellung ihrer politischen Interessenvertretung in allen möglichen Regierungskoalitionen. Die gleichzeitige Hervorhebung des Laizismus, der Sozialstaatlichkeit, der parlamentarischen Demokratie und die Bekämpfung der hohen Inflation dient in erster Linie der Generierung gesellschaftlicher Zustimmung zu ihren Positionen.
So bleibt zu hoffen, dass die sozialistischen und kommunistischen Kräfte innerhalb des »Bündnisses für Arbeit und Freiheit«, die nach den Wahlen durchaus zum »Zünglein an der Waage« werden könnten, es schaffen, die soziale Frage in den Mittelpunkt der Oppositionspolitik zu stellen und reale Alternativen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu entwickeln. Diesen Weg wird keine andere politische Kraft einschlagen.
[1] Siehe: https://www.sbb.gov.tr/enflasyon/
[2] DISK: Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu [Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften]
[3] Tageskurs am 1.September 2022: 1 Euro = 18,213 Türkische Lira
[4] Quelle: Zentralbank der Republik Türkei (TCMB), https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/en/tcmb+en.
[5] Siehe: https://www.sbb.gov.tr/temel-ekonomik-gostergeler/#1542268521132-a9825b93-fa4c
[6] Siehe: https://www.dogrulukpayi.com/bulten/yillara-gore-turkiye-nin-dis-borc-stoku
[7] Siehe: Nick Brauns / Murat Çakır, »Die faschistoide Vorfeldorganisation«, http://murat-cakir.blogspot.com/2016/11/die-faschistoide-vorfeldorganisation.html.
[8] Siehe: Murat Çakır, »Der Putschversuch: “Dilettantisch” oder “für Erdogan”?«, http://murat-cakir.blogspot.com/2016/07/der-putschversuch-dilettantisch-oder.html und Murat Çakır, »Die neuen Stützen des AKP-Regimes«, RLS-Standpunkte 23/2016,https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_23-2016.pdf.
[9] Siehe: Murat Çakır, »Legitimierung der Präsidialdiktatur«, http://www.murat-cakir.de/legitimierung-der-praesidialdiktatur/#more-589.
[10] Axel Gehring, »Das türkische Dilemma«, https://www.rosalux.de/news/id/45468/das-tuerkische-dilemma.
[11] Ebenda.
[12] Bei diesen Wahlen treten Parteienblöcke gegeneinander an.
[13] Siehe: https://www.haber3.com/guncel/politika/metropoll-agustos-ayi-secim-anketini-acikladi-haberi-6093418 und https://www.cumhuriyet.com.tr/siyaset/galeri-son-secim-anket-yayimlandi-akpye-soguk-dus-birinci-parti-degisti-1970190/2.
[14] Die verbotene KP der Türkei unterstützt das »Bündnis für Arbeit und Freiheit«.
[15] Siehe: https://www.gazeteduvar.com.tr/4-altili-masa-zirvesinden-10-maddelik-temel-ilkeler-ve-hedefler-bildirisi-cikti-haber-1566939.
[16] Ebenda.
[17] Siehe: https://tusiad.org/tr/yayinlar/raporlar/item/10855-yeni-bir-anlayisla-gelecegi-i-nsa-i-nsan-bilim-kurumlar.