Legitimierung der Präsidialdiktatur
Reaktionär-faschistischer Block gewinnt Wahlen in der Türkei
Auch bei diesen – zutiefst undemokratischen und unfairen – Wahlen in der Türkei hat es an Dramatik nicht gefehlt. Schon im Vorfeld wurde die Bedeutung dieser Wahl dramatisch zugespitzt. In den bürgerlichen Medien der BRD wurden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu »Schicksalswahlen« hochstilisiert. Ähnliches war auch aus oppositionellen Kreisen der Türkei zu hören. Doch die in den letzten Wochen des Wahlkampfes spürbar gewordene Wechselstimmung hat nicht das von der Opposition erwünschte Ergebnis gebracht. Dabei hatte die radikale Linke in der Türkei vor allzu hochtrabenden Erwartungen gewarnt: eine Diktatur könne nicht mit undemokratischen Wahlen abgewählt werden. In der Tat, die vorgezogenen Wahlen haben dem, in einer schweren Krise steckenden AKP-Regime in die Hände gespielt. Das Regime nutzte diese Wahlen zur Legitimierung der Präsidialdiktatur und zur Deklassierung der bürgerlichen Opposition. Nun steht es fest: der reaktionär-faschistische Block aus AKP, MHP und der kleinen BBP konnte trotz ökonomischen Schwierigkeiten des Landes ihre Wähler*innenbasis mobilisieren und zugleich den Kapitalfraktionen glaubhaft vermitteln, dass sie für eine relative Stabilität der neoliberalen Ordnung sorgen können. Sie stellen mit Erdoğan einen Staatspräsidenten mit ungeheurer Machtfülle und haben mit 343 Abgeordneten die Parlamentsmehrheit in der Hand.
Muharrem Ince, der Präsidentschaftskandidat der kemalistischen CHP konnte die, durch seinen sehr engagierten Wahlkampf entstandene gesellschaftliche Aufbruchsstimmung nicht zu einem Ergebnis ummünzen, der wenigstens für eine Stichwahl gesorgt hätte. Obwohl Ince 8 Prozent mehr Stimmen auf sich vereinigen konnte als seine Partei, musste er sich geschlagen geben und hat durch seine Weigerung am Wahlabend vor CHP-Anhänger*innen zu sprechen, viel an Sympathie verloren. Meral Akşener, die Vorsitzende der neofaschistischen MHP-Abspaltung Iyi Parti konnte mit 7,3 Prozent weniger Stimmen als ihre Partei einholen.
Der ehemalige Co-Vorsitzende des Linksbündnisses HDP, Selahattin Demirtaş erzielte mit 8,4 Prozent einen echten Achtungserfolg. In Haft und ohne Möglichkeit mit den Wähler*innen direkt zu kommunizieren ein solches Ergebnis einfahren zu können, ist besonders Erwähnenswert und ein Beleg dafür, dass das Linksbündnis ihre Reifeprüfung bestehen konnte.
Die Zahlen
Die Wahlbeteiligung ist mit 86,4 Prozent als relativ hoch zu bewerten, gerade wenn man bedenkt, dass besonders in kurdischen Gebieten versucht wurde, HDP-Wähler*innen durch Repressionen, Einschüchterungen und Gewaltanwendung von den Urnen fernzuhalten. In den kurdischen Gebieten wurden massive Wahlmanipulationen festgestellt. Trotzdem konnte die HDP in 11 kurdischen Regierungsbezirken sich als erste Kraft behaupten. Dort hat Demirtaş überdurchschnittlich hohe Stimmenzahlen erhalten.
Bei den Staatspräsidentschaftswahlen hatte Erdoğan ein leichtes Spiel. Ihm standen, neben dem Staatsapparat und Parteistrukturen, auch die meisten türkischen Medien zur Verfügung. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes, der aufgehobenen Gewaltenteilung, einer nationalistisch aufgeheizten AKP- und MHP-Wählerschaft und des verstärkten Repressionsregimes konnte Erdoğan handeln und walten wie er wollte. Zwar sind Vorwürfe der Wahlfälschung und massiven Wahlmanipulationen sehr ernst zu nehmen, reichen aber alleine nicht aus, um das Wahlergebnis zu erklären. Diese sahen wie folgend aus:
Präsidentschaftswahlen:
Kandidat | Stimmen | In Prozent |
Recep Tayyip Erdoğan | 26.324.482 | 52,59 |
Muharrem İnce | 15.336.594 | 30,64 |
Selahattin Demirtaş | 4.205.219 | 8,40 |
Meral Akşener | 3.649.233 | 7,29 |
Temel Karamollaoğlu | 443.766 | 0,89 |
Doğu Perinçek | 98.926 | 0,20 |
Erdoğan hat es geschafft, die Krise im Machtblock zu überwinden und im ersten Wahlgang die Wahl für sich zu entscheiden. Dieses Ergebnis zeigt, dass Erdoğan weiterhin einen großen Teil der sunnitisch-konservativen Bevölkerungsmehrheit hinter sich sammeln kann. Dass Demirtaş weniger Stimmen als die HDP bekommen hat, liegt sicherlich auch daran, dass auch innerhalb der HDP-Wählerschaft die Chancen für Muharrem İnce höher eingeschätzt wurden und İnce auch von HDP-Wähler*innen (besonders im Westen) Stimmen erhalten konnte.
Parlamentswahlen:
Partei | Parlamentswahl am 24.06.2018 | Parlamentswahl am 01.11.2015 | ||||
In Prozent | Stimmen | Abgeordnete | In Prozent | Stimmen | Abgeordnete | |
AKP | 42,6 | 21.333.172 | 293 | 49,5 | 23.673.541 | 317 |
CHP | 22,6 | 11.346.240 | 146 | 25,3 | 12.109.985 | 134 |
HDP | 11,7 | 5.65.664 | 67 | 10,8 | 5.145.688 | 59 |
MHP | 11,1 | 5.564.103 | 49 | 11,9 | 5.691.737 | 40 |
Iyi Parti*) | 9,95 | 4.989.639 | 44 | — | — | — |
Sonstige | 2,05 | 1.026.582 | — | 2,54 | 1.902.659 | — |
Iyi Parti wurde erst in diesem Jahr gegründet.
Im Vergleich zu den Wahlen am 1. November 2015 hat die AKP zwar an Stimmen und Parlamentssitzen verloren, kann aber gemeinsam mit der MHP, die nun voraussichtlich Regierungspartnerin wird, über eine Mehrheit von 342 Abgeordneten verfügen. Aber unabhängig davon hat das Parlament eh weniger Rechte. Nach der neuen Verfassung ist er Staatspräsident zugleich der Regierungschef und kann in bestimmten Fällen – was bei Erdoğan zum Normalfall werden wird – am Parlament vorbei mit Dekreten regieren und ggf. das Parlament auflösen. Erdoğan ernennt Minister, Generalstabschef, Universitätsrektoren, Richter etc. Die vormals de facto Aufhebung der Gewaltenteilung ist nun verfassungsrechtliche Realität. Mit diesem Ergebnis ist nun der Institutionalisierung einer offenen faschistischen Diktatur Tür und Tor geöffnet. Ob es aber dazu kommen wird, hängt von vielen Faktoren ab.
Ein höchstinteressantes und kaum mit vernünftigen Analysen zu erklärendes Ergebnis dieser Wahl ist der Stimmenanteil der neofaschistischen MHP. Die MHP hat während des gesamten Wahlkampfes – außer einer Kundgebung und einigen Salonveranstaltungen – quasi kein Finger gerührt. Nur der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli war in den Nachrichtensendungen zu sehen. Hinzu kam noch die Abspaltung durch Meral Akşener. Nahezu alle Wahlforschungsinstitute sahen daher die MHP unter der 10-Prozent-Hürde. Dass eine Partei, die sich gespalten hat, ihr Stimmenanteil von 2015 fast einhalten konnte und ihre Abspaltung trotzdem fast 10 Prozent erhalten hat, ist mehr als ungewöhnlich und nährt die Vorwürfe der Wahlmanipulation. Möglicherweise konnte Akşeners Iyi Parti von den Wähler*innenwanderungen aus der AKP und der CHP profitieren, aber nicht von der eigentlichen Wähler*innenbasis der Neofaschisten. Obwohl die Iyi Parti mit 9,95 Prozent unter der 10-Prozent-Hürde geblieben ist, kann sie aufgrund des Allianzen-Wahlrechts, mit der die 10-Prozent-Hürde für Mitglieder der Parteienallianzen aufgehoben ist, ins Parlament einziehen. Aufgrund ihrer neofaschistischen Ausrichtung kann davon ausgegangen werden, dass die Iyi Parti zukünftig eher mit dem reaktionär-faschistischen Blok abstimmen wird, als mit der CHP und der HDP.
Das Ergebnis der CHP wird die Kemalisten in eine tiefere Krise stürzen. Zumal ihr Verhalten am Wahlabend viele CHP-Anhänger*innen zutiefst enttäuscht hat. Das Experiment der CHP-Führung, mit kemalistisch-nationalistischen und konservativen Kandidat*innen sowie einer (gegen die syrischen Flüchtlinge) offen rassistischen Haltung bei der sunnitisch-konservativen Bevölkerungsmehrheit punkten zu können, kann als gescheitert angesehen werden. Die weitere Erosion der Partei ist abzusehen und wird auch von Parteilinken nicht aufgehalten werden können, zumal sich die CHP-Führung weiterhin als Teil der Vertretung von herrschenden Klassen sieht.
Die 10-Prozent-Hürde – nach dem Militärputsch von 12. September 1980 eingeführt, um kurdische Parteien vom Parlament fernzuhalten – galt im Grunde genommen nur für die HDP, die mit ihrem Ergebnis diese Hürde zum zweiten Mal ad absurdum geführt hat. Der Einzug der HDP ins Parlament, obwohl zahlreiche Abgeordnete und rund 17.000 Funktionäre inhaftiert sind, die Partei aufgrund der Repressionen mehrfach behindert wurde, ist durchaus als ein großer Erfolg zu bewerten. Die HDP ist die einzige Partei, in der rund die Hälfte der Abgeordneten Frauen und mehrere Sozialist*innen vertreten sind und kann, da sie die unterdrückten Schichten und subalternen Klassen vertritt, als die einzige parlamentarische Kraft der gesellschaftlichen und politischen Opposition gesehen werden.
Fazit
Aufgrund der Bedingungen kann von bürgerlich-demokratischen und fairen Wahlen überhaupt nicht gesprochen werden. Diese waren auch weder »die letzten freien Wahlen« noch irgendwie geartete »Schicksalswahlen« wie es gerne kolportiert wird. Nach dem Verfassungsreferendum von 2010 und insbesondere nach dem letzten Referendum am 16. April 2017 war der Übergang in die Diktatur längst vollzogen. Mit den Staatspräsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 wurde die Präsidialdiktatur legitimiert. Das AKP-Regime beabsichtigte mit den vorgezogenen Wahlen gegenüber den internationalen Akteuren ihre Reputation wiederherzustellen und die fragiler gewordenen Machtverhältnisse durch Legitimation zu stabilisieren. Vorerst ist Erdoğan das gelungen. Aber perspektivisch gesehen steht die Präsidialdiktatur Erdoğans auf tönernen Füßen. Denn die Vielfachkrise in der sich das Land seit langem befindet, hat sich vertieft. Nun muss die neue Erdoğan-Regierung die Versprechungen, die sie den internationalen Finanzmärkten vor den Wahlen gegeben hat, erfüllen. Die Umsetzung weiterer neoliberaler »Wirtschaftsreformen« stehen an und diese Sanierung wird über kurz oder lang auch die kleinbürgerlichen und mittelständischen AKP- und MHP-Unterstützer hart treffen. Mit weiteren sozialen Härten und Verbreitung der Armut verbundenen Maßnahmen sowie Entscheidungen die auf »Zwängen« beruhen, werden zu größeren Protesten und Widerständen führen, zumal sie ohne die Verschärfung des Repressionsapparats nicht umsetzbar sind. Dazu kommt die Tatsache, dass die kurdische Frage weiterhin ungelöst ist und große, blutigere Konfliktpotentiale beinhaltet.
Es mag sein, dass der reaktionär-faschistische Block gestärkt aus diesen Wahlen herausgegangen ist. Völlig offen ist aber, wie sie die nächsten eins bis zwei Jahre überleben wird. Für die Linke in der Türkei werden zwar die Bedingungen viel schlechter, aber sie schaffen auch neue Chancen und Möglichkeiten, um den Kampf gegen Faschismus und Diktatur stärker zu gestalten. Die in den letzten Wochen des Wahlkampfes entstandene Aufbruchsstimmung in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen sowie die von, bisher der kurdischen Bewegung reserviert bis feindlich gegenüberstehenden urbanen-modernen Schichten offen artikulierte Wahlsolidarität mit der HDP machen Hoffnung auf mehr. Hier stehen nun die türkische Linke und die kurdische Befreiungsbewegung in der Pflicht: Brücken zwischen unterschiedlichen Widerstandsherden aufzubauen, laizistische CHP-Anhänger*innen in den demokratischen Kampf einzubeziehen, den von oben erklärten Klassenkampf aufnehmend eine Bresche zu den verarmten sunnitisch-konservativen Bevölkerungsteilen zu schlagen und gegen die Diktatur die Straßen zu beleben – Leichter gesagt als getan, aber nicht unmöglich, sondern durchaus machbar. Die Erfahrungen des Gezi-Widerstandes, gelebte und erlebte Solidarität gegen Polizeigewalt, gegenseitige Wahlkampfunterstützung der CHP- und HDP-Anhänger*innen und trotz allem Millionen von Wähler*innen bilden dafür die Grundlage. Unterdrückte und ausgebeutete Klassen wissen aus Erfahrung: Wir können verlieren, stehen aber wieder auf und kämpfen weiter. Wenn Diktatoren verlieren, dann sind sie Geschichte. Die türkische Linke und die kurdische Befreiungsbewegung haben inzwischen genug Erfahrung gesammelt, um die Herausforderungen die jetzt anstehen, zu meistern. Wir in Europa sollten sie mit allen Kräften unterstützen und für diesen Kampf ermutigen.